Selig sind die Sanftmütigen: Urbane Mischung in Neuköln

„Ich schenke euch ein neues Herz und lege einen neuen Geist in euch“ lautet die Jahreslosung 2017 der evangelischen Genezareth-Kirchengemeinde in Berlin-Neukölln und trefflicher könnte die Wandlung des an die Kirche gebauten Gemeindesaals „Selig“ nicht beschrieben werden. Was bis vor wenigen Monaten den Charme einer Seniorenbegegnungsstätte mit altmodischem Rückbüffet, Neonröhren und Kunstlederstühlen hatte, ist jetzt ein urbaner Garten Eden mit langen Tafeln aus Eichenholz, üppig bepflanzten Raumteilern und dank aufwändiger Lichtinstallation stimmungsvoller Atmosphäre. Der neue Geist zog im Mai letzten Jahres in Gestalt von Pächter Christian Birkelbach ein. L.A.-Style nennt er das Innenraumkonzept und tatsächlich herrscht eine entspannte, luftige Stimmung. Rund 70 Plätze stehen innen zur Verfügung und bis zu 200 auf der ausladenden Terrasse, die über die gesamte Breite der Kirche reicht. Dem 38-Jährigen Birkelbach ist bei seiner Suche nach einer geeigneten und bezahlbaren Location für sein erstes eigenes Restaurant die zentrale Lage mitten auf dem Herfturth-Platz und die architektonische Offenheit des Baus mit viel Glas positiv aufgefallen.

„Jeder soll im Selig einen Ort finden, an dem er sich wohlfühlt“, sagt der 38-Jährige, „die Neuköllner Hipster, die die ganze Zeit Instagram-Fotos von unserem Essen machen, ältere Herrschaften aus der Nachbarschaft, die ihr Käsefrühstück essen, Touristen vom Tempelhofer Feld, Büroangestellte aus der Umgebung.“ Deshalb ist die Speisekarte auch knapp kalkuliert – die meisten Gerichte (z. B. Himmel und Erde oder Jerusalem-Teller) kosten unter 10 Euro. Es gibt jeden Tag Frühstück, am Wochenende Brunch, außerdem wechselnden Mittagstisch mit und ohne Fleisch, manchmal vegan, sowie Abendessen. Der Ort bietet sich auch an für Hochzeits-, Geburtstags- und Konfirmationsfeiern, im Dezember sind jeden Abend Weihnachtsfeiern. Aber auch Konzerte und Drag Shows haben schon stattgefunden – Birkelbach will maximale Vielfalt: „Wir sind queer friendly und das Restaurant soll auch ein Schutzraum sein vor Anfeindungen egal welcher Art.“ Die Kirchengemeinde als Vermieter habe damit kein Problem, im Gegenteil, sie betreibt auf der anderen Kirchenseite ein interkulturelles Zentrum und wisse, auf wen sie sich eingelassen habe. Anders als die Vormieter habe er einen normalen Fünf-Jahres-Mietvertrag und sei mit seinem Gastrokonzept vollkommen unabhängig.

Immer mehr Berliner Kirchengemeinde verpachten Gebäude oder Teile davon an Gastronomen. So gibt es neben dem Selig das Café Strauss auf dem Friedhof Dreifaltigkeit, das Café Finovo auf dem Alten St. Matthäus Kirchhof und mit dem Kreuzberger Himmel ein von Flüchtlingen betriebenes syrisches Restaurant in der Pfarrei St. Bonifatius. „Ich bin seit dem 15. Lebensjahr ein Gastrohase“, sagt Birkelbach, der alle Stationen vom Kellner über Barmann und Restaurantleiter kennenlernte. Nach einem Abstecher ins Showgeschäft als Castingdirektor einer Filmproduktion wurde er Souschef im Hallischen Haus. Doch der Wunsch, einen eigenen Laden zu betreiben, war immer da – nur der passende Ort ließ lange auf sich warten. Häufig verhinderten hohe Ablösesummen von 100.000 Euro und mehr, dass er einen Laden übernehmen konnte. „Das ist kein guter Start, wenn man alles mit Ersparnissen und Krediten finanzieren muss“, sagt Birkelbach, „im Vergleich dazu waren die Bedingungen hier sehr viel besser.“ Seine rheinländische Herzlichkeit kommt gut an im rauen Neuköllner Kiez.

Für ihn ist es wichtig, dass die verschiedenen Gästegruppen gleichermaßen willkommen geheißen werden. Deshalb lehnt er die kühle Arroganz mancher Servicekräfte, die nur Englisch sprechen, ab. Misanthropen mit einem „Miesepetergesicht“ passten nicht ins Selig.

Dieser Artikel erschien zuerst in der Allgemeinen Hotel- und Gastronomie-Zeitung. 

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